Nora Schöpfer
Filigrane Rekonfigurationen und rhizomatische Modelle
Rosanna Dematté
Nora Schöpfer lotet in ihrer Arbeit die Möglichkeiten der Figuration und der Abstraktion bis zum scheinbaren Schweigen des Schwarzen Quadrats aus. Konträre Sprachen der Kunst, womit sie die Strukturen der Wahrnehmung analysiert, in Bildern abstrahiert und wieder aufbaut und damit einen Toleranz-Raum für unterschiedliche Weltauffassungen öffnet. Ihre Werke – Installationen, Gemälde, überzeichnete und übermalte Fotografien und Grafiken – entpuppen die Realität als Wirklichkeit, welche eine Konfiguration unter vielen möglichen Konfigurationen ist. Sie basieren auf einem philosophischen Denken, das sich verbal kaum entfalten könnte. Ihre Werktitel, die sie akkurat aus einem philosophischen Fundus wählt, funktionieren kaum als verbale Erklärung der Arbeiten, sondern vielmehr als zusätzliche figurative Elemente. Ihre Ausstellungen heißen „aesthetic thought spaces“ (Räume des ästhetischen Denkens) oder „stream of perception in fragments 1-5“ (Fluss der Wahrnehmung in Fragmenten), ihre Arbeitsserien „fluid und liquid existence“ (flüssige Existenz) und „aesthetic thoughts“ (ästhetische Gedanken).
Räume der Kunst
„permanent unknown“ (Das permanent Unbekannte) ist der Titel einer Installation von 2018, die aus einem kleinen Monitor auf einer Säule aus Büchern besteht. Im Video wird man auf eine Bühne eingeladen, mit einem Vorhang, der sich durch einen leich-
ten Luftzug bewegt. Die Bücher der Philosophie und der Wissenschaft stellen sich als eine Leiter zum Unbekannten heraus, denn nur ein Hauch von dem was sich hinter dem Vorhang versteckt, ist sichtbar. Man steht vor einem platonischen Statement. Wie die Menschen im Höhlengleichnis empfindet man zugleich Frust und Faszination für das, was für immer unbekannt bleiben wird.
Das Video in „permanent unknown“ wurde auf dem Weg zum Eingang in eine Kunstmesse aufgenommen und weist auf einen bevorzugten Ausgangspunkt der Künstlerin: Die Räume der Kunst. In Räumen wie Ausstellungen, Museen, Galerien wird seit dem 20. Jahrhundert etwas möglich, das für eine neue Erfahrung der Dinge von großer Bedeutung ist. Möglich werden zum Beispiel Momente der Irritation, Brüche mit der konventionellen Erfahrung, an denen sich eine andere, besondere Erfahrung ereignen kann mit einer konsequenten Anpassung und Erweiterung der Wahrnehmung. Sie sind dazu da, um über visuelle aber auch theoretische Konventionen zu reflektieren. Nora Schöpfer fokussiert auf Ausstellungen und auf Ausstellungsräume als Dispositive, wo unterschiedliche Formen der Wahrnehmung und somit die Gerüste des Wirklichen Priorität haben und kritisch hinterfragt werden.
In der Serie „aesthetic perception 7-9“ baut sie aus architektonischen Fragmenten von besuchten Ausstellungsräumen digitale Collagen. Den Rückblick in die eigene Erinnerung an Ausstellungsbegehungen übersetzt sie in neue Konstellationen, wo die Position des Besuchers und der Besucherin große Bedeutung einnimmt. In einer Reihe von Gemälden schafft sie visuelle Modelle, um die Entkoppelung von alten zentralperspektivischen Wahrnehmungsmustern und die Suche neuer Möglichkeiten des Betrachtens nachzuprüfen, die sie zum Beispiel als Besucherin einer Ausstellung Cy Twomblys erleben konnte. Es gelingt Schöpfer, uns das Unvorstellbare zu zeigen: Das Oszillieren zwischen dem Vertrauen in die Bilder der Kunst und dem Wissen über ihre Täuschung, jene Grenze, die das Empfinden des Ichs als Betrachter möglich macht.
Inside outside paradox
Die vermeintliche, doch für das Selbstbewusstsein unentbehrliche Grenze zwischen dem Ich und der Außenwelt ist so filigran wie die „Fadenkörper“, die die Künstlerin als Rauminstallationen aufbaut oder als formale Elemente in ihre Werke integriert. Die dünnen, im Bild integrierten oder zu den Werken installierten Geraden, die in manchen Arbeiten der Linie eines Horizonts entspre-chen, würden diesem Gendanken nach mit der Schwelle, wo sich Innen- und Außenwelt verbinden, übereinstimmen.
Die Trennung zwischen dem inneren Geist und der äußeren Welt der Phänomene, die wir hören, sehen, riechen, berühren, ist in Wahrheit sehr fragil. Sie ist leicht verschiebbar und vor allem ein geniales menschliches Konstrukt im Prozess der Selbsterkennung, welche die geistige Konfrontation mit den Dingen erst möglich macht. Ab ca. 24 Monaten sind Kinder in der Lage, sich vor dem eigenen Spiegelbild als wahrnehmendes Subjekt zu empfinden. Die psychologische Forschung spricht von „mirror self-experience and self-consciousness“, die den Erwachsenen nur vor der Betrachtung von Kunst bewahrt bleibt. Parallel dazu werden in der Geschichte der Philosophie des 17. Jahrhunderts von Descartes die „res cogitans“ (die Gedanken), und die „res extensa“ (die Materie, die Naturwelt) verhängnisvoll getrennt. Die Natur sei so, wie der Mensch sie sieht, die Zentralperspektive der einzige richtige Weg.
Dagegen wird in der Kunst spätestens seit der Klassischen Moderne gekämpft, zum Beispiel von den futuristischen Künstlern, die den Zuschauer in die Mitte des Bildes hineinkatapultieren und die Welt nach Geisteszuständen und moderner Geschwindigkeit verstanden wissen wollen. Der Mensch ist demnach nicht nur der äußere Betrachter einer perspektivisch gebauten Welt: Er ist immer mitten im Bild gewesen. Jahrzehnte später schreibt der Quantenphysiker Erwin Schrödinger über Geist und Materie: „Der Geist baut die reale Außenwelt der Naturphilosophie (wie auch die des Alltags) ausschließlich aus seinem eigenen, d.i. aus geistigem Stoffe auf.“1 Im gleichen Text erklärt er den Umgang mit dem Paradox der Außenwelt so: „Der Geist kann mit dieser wahrhaft gigantischen Aufgabe nicht anders fertig werden, als mittels des vereinfachenden Kunstgriffs, daß er sich selbst aus
schließt, sich aus seiner begrifflichen Schöpfung zurückzieht.“2
Schöpfers Installation „Inside outside paradox“ behauptet die Trennung zwischen Innen und Außen als Irrtum. Im und auf einem umgedrehten Ausstellungspodest setzt sie auf filigranem Gestell Fotografien von Menschen in prominenten Ausstellungsräumen, die aus dem Fenster schauen. Das Werk liest sich als Hinweis auf die Durchlässigkeit von Kunsträumen nach außen und nach innen, auf ihr Potenzial zur Verschiebung der Grenzen, die sich die Menschen stellen.
Rhizome
Mit diesem und vielen anderen Arbeiten öffnet Nora Schöpfer sich einem phänomenologischen Diskurs, der sie von Anfang an zu ihrer Arbeit getrieben hat. Die Erfahrung der Phänomene, ist, um Edmund Husserl zu paraphrasieren, über die Apparate der Wissenschaft und der Kunst vermittelt. Es wird dadurch schwierig, die Einzigartigkeit jedes Phänomens ohne Vormeinungen zu erleben. Schöpfer wählte den Weg, über die Vormeinungen zu reflektieren und die vorgegebenen Grenzen in Frage zu stellen. Viele ihrer Arbeiten verstehen sich als Untersuchung der Relationen zwischen den AkteurInnen, welche die Wirklichkeit aufbauen.
In der Arbeit „configurations/tree“ (Konfigurationen/Baum) ist im obersten Bereich das Fenster eines Ausstellungsraumes auf der Biennale von Venedig zu erkennen. Es signalisiert einen Ausblick, der einen inneren Blick inkludiert aber auch: einen Blick in die Verbindungen zwischen Natur und Kultur, in die Ähnlichkeit der Strukturen von Schatten einer Baumkrone mit den Strukturen unterirdischer Pilze, die im Einklang mit anderen Organismen leben. Die menschliche Wahrnehmung versteht sich in Relation mit der Welt, in einer relationalen Befruchtung.
Diese rhizomatischen Strukturen, die sich in anderen Werken Schöpfers erkennen lassen, stellen eine Alternative zum hierarchischen aber auch zum dialektischen Denken dar. Carl Gustav Jung hatte schon das Wort Rhizom als Metapher für die unsichtbare Natur des Lebens gewählt.3 Philosophen wie Guattari oder Deleuze intendieren mit dem Begriff Rhizom eine philosophische Denkweise, die nicht von einem zentralen Stamm ausgeht, sondern in alle Richtungen funktioniert und immer neue produktive Zusammenhänge bauen kann.4 Die Welt kann in einen unendlich erweiterbaren epistemologischen Prozess begriffen werden, der unendliche Abzweigungen hat.
Das Bewusstsein über die Konstruktionen der Welt, auf die sich die Menschen im Austausch miteinander meist beziehen, lässt sich nicht leicht aktivieren. Wir hängen irgendwie zwangsweise an dem Raum, der drei Dimensionen hat, und an der Zeit, die vergehen muss, und können uns leider kaum außerhalb des Zeit-Raums verständigen. Viele Arbeiten von Nora Schöpfer thematisieren das filigrane Zeit-Raum-Gerüst, das es zu überwinden gilt, um mehr hinter die gewohnten Kulissen der Welt zu blicken, die dem Ich eine Verankerung geben.
Extrem filigran und gleichzeitig langlebig sind Nora Schöpfers Fadenkörper, welche von ihr als „Zeiträume“ bezeichnet im Giardino von Daniel Spoerri bei Seggiano in Italien oder im Skulpturengarten Achter de Westduinen in den Niederlanden permanent hängen. Sie verhalten sich wie die leeren Augen mancher Selbstporträts von ihrem Lehrer Oswald Oberhuber oder gar wie die spiegelnden Augen in Giuseppe Penones fotografischer Arbeit „Rovesciare i propri occhi“. Innen- und Außenwelt treffen sich in den Augen, in ständiger Veränderung.
Rhizome
Mit diesem und vielen anderen Arbeiten öffnet Nora Schöpfer sich einem phänomenologischen Diskurs, der sie von Anfang an zu ihrer Arbeit getrieben hat. Die Erfahrung der Phänomene, ist, um Edmund Husserl zu paraphrasieren, über die Apparate der Wissenschaft und der Kunst vermittelt. Es wird dadurch schwierig, die Einzigartigkeit jedes Phänomens ohne Vormeinungen zu erleben. Schöpfer wählte den Weg, über die Vormeinungen zu reflektieren und die vorgegebenen Grenzen in Frage zu stellen. Viele ihrer Arbeiten verstehen sich als Untersuchung der Relationen zwischen den AkteurInnen, welche die Wirklichkeit aufbauen.
In der Arbeit „configurations/tree“ (Konfigurationen/Baum) ist im obersten Bereich das Fenster eines Ausstellungsraumes auf der Biennale von Venedig zu erkennen. Es signalisiert einen Ausblick, der einen inneren Blick inkludiert aber auch: einen Blick in die Verbindungen zwischen Natur und Kultur, in die Ähnlichkeit der Strukturen von Schatten einer Baumkrone mit den Strukturen unterirdischer Pilze, die im Einklang mit anderen Organismen leben. Die menschliche Wahrnehmung versteht sich in Relation mit der Welt, in einer relationalen Befruchtung.
Diese rhizomatischen Strukturen, die sich in anderen Werken Schöpfers erkennen lassen, stellen eine Alternative zum hierarchischen aber auch zum dialektischen Denken dar. Carl Gustav Jung hatte schon das Wort Rhizom als Metapher für die unsichtbare Natur des Lebens gewählt.3 Philosophen wie Guattari oder Deleuze intendieren mit dem Begriff Rhizom eine philosophische Denkweise, die nicht von einem zentralen Stamm ausgeht, sondern in alle Richtungen funktioniert und immer neue produktive Zusammenhänge bauen kann.4 Die Welt kann in einen unendlich erweiterbaren epistemologischen Prozess begriffen werden, der unendliche Abzweigungen hat.
Das Bewusstsein über die Konstruktionen der Welt, auf die sich die Menschen im Austausch miteinander meist beziehen, lässt sich nicht leicht aktivieren. Wir hängen irgendwie zwangsweise an dem Raum, der drei Dimensionen hat, und an der Zeit, die vergehen muss, und können uns leider kaum außerhalb des Zeit-Raums verständigen. Viele Arbeiten von Nora Schöpfer thematisieren das filigrane Zeit-Raum-Gerüst, das es zu überwinden gilt, um mehr hinter die gewohnten Kulissen der Welt zu blicken, die dem Ich eine Verankerung geben.
Extrem filigran und gleichzeitig langlebig sind Nora Schöpfers Fadenkörper, welche von ihr als „Zeiträume“ bezeichnet im Giardino von Daniel Spoerri bei Seggiano in Italien oder im Skulpturengarten Achter de Westduinen in den Niederlanden permanent hängen. Sie verhalten sich wie die leeren Augen mancher Selbstporträts von ihrem Lehrer Oswald Oberhuber oder gar wie die spiegelnden Augen in Giuseppe Penones fotografischer Arbeit „Rovesciare i propri occhi“. Innen- und Außenwelt treffen sich in den Augen, in ständiger Veränderung.
Rekonfigurationen
Wie erzeugen wir in dieser ständigen Veränderung unser Weltbild? Ist es endlich an der Zeit, aus der Höhle zu kommen?
Manche von uns könnten durchaus von der Erkenntnis begeistert sein, dass der aus der Höhle kommende Mensch nur sich selbst finden wird.
Karen Barad, theoretische Physikerin und Theoretikerin des „Neuen Realismus“, die der sogenannten „Materie“ eine Eigenlogik zuweist und als Akteur im epistemologischen Diskurs anerkennt, aktualisiert das menschliche Dilemma der Außen- und Innenwelt, die daraus resultierten theoretischen Gerüste und zugleich Schrödingers These über den geistigen Aufbau der Natur: „Theorien sind nicht bloße metaphysische Aussagen über die Welt, die von einer mutmaßlichen Position der Exteriorität gemacht werden. Sie sind vielmehr lebende und atmende Rekonfigurationen der Welt.“5 Mit einer künstlerischen Praxis wie der von Nora Schöpfer behauptet sich Kunst im wissenschaftlichen Diskurs, indem sie durch ihre Materialität neue Rekonfigurationen und Modelle des Denkens ermöglicht. Daraus resultieren durchaus immer neue blinde Flecken. Als solche könnten die monochromen Farbfelder in einigen der Arbeiten Nora Schöpfers interpretiert werden, als blinde Flecken des Selbst: Signifikante mit einer eigenen tonalen Wertigkeit, Un-Orte, wo das Subjekt sich nicht mehr wiedererkennt und das Denken mit bestehenden Vorstellungen und Dingen nicht korrespondieren muss. Wo die Angst vor dem Schwarzen Quadrat überwunden wird und das Selbst mal nur Farbe sein darf, kann etwas Neues entstehen.
1 Erwin Schrödinger: Geist und Materie, Braunschweig 1959, S. 32.
2 Ebenda.
3 Vgl. u.a. Carl Gustav Jung: Erinnerungen, Träume, Gedanken, Zürich und Düsseldorf 1961.
4 Vgl. Felix Guattari, Gilles Deleuze: Rhizom, Berlin 1976.
5 Karen Barad: Berühren – Das Nicht-Menschliche, das ich also bin (V.1.1), in: Susanne Witzgall, Kerstin Stakemeier (Hg.): Macht des Materials/Politik der
Materialität, Zürich–Berlin 2014, S. 164.